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Flucht aus Ostpreußen von Meta Techam

Es ist die Nacht vom 19. zum 20. Januar 1945. Ich habe zusammen mit Fahrdienstleiter Behrend 12 Stunden lang Nachtdienst. Es ist eine sehr unruhige Nacht. Die nur mit Knüppeln bewaffneten Volkssturmmänner gehen zu dritt oder viert an den Bahngleisen entlang vom Bahnhof Mattenau bis Dallwitz. Das ist eine Strecke von drei Kilometern, die durch einen Tannenwald führt. Sie sollen Wache halten, denn es heißt, Partisanen wären von Flugzeugen im Kranichbucher Forst abgesetzt worden. Nun werden vermehrte Anschläge auf den Bahnkörper befürchtet. Bei ihrer Rückkehr berichten uns die Männer, sie hätten von den Gleisen Schatten in den Wald hinein huschen sehen. Nachdem sie sich in unserem Dienstraum aufgewärmt haben, gehen sie wieder in die Dunkelheit hinaus.

Gegen Mitternacht funktioniert plötzlich unser Einfahrtsignal aus Richtung Insterburg nicht mehr. Es zeigt „ROT“. Das Signal wird durch Seilzug bedient und ist ungefähr 100 m vom Bahnhof entfernt. Das bedeutet für mich, dass ich nun jedem Zug bis zum Signal entgegen laufen muss, um dem jeweiligen Lokführer einen schriftlichen Befehl vom Fahrdienstleiter zu überbringen. Darin steht, dass der Zug an dem Haltesignal vorbeifahren darf. Die Wehrmachtszüge fahren im Blockabstand von 10 Minuten. Ich laufe pausenlos. Angst die dunklen Gleise entlang zu laufen, lasse ich gar nicht erst aufkommen.

Um sechs Uhr morgens löst mich meine Kollegin Herta ab und ich gehe nach Hause, freue mich aufs Schlafen. Mutter kommt und bittet mich, doch bald wieder aufzustehen. Ich soll zu meiner Schwester Lotte fahren. Mutter sorgt sich sehr um sie. Sie hat gehört, dass die Hebamme aus Jänichen schon geflüchtet ist. Auch die etwa siebzehnjährige Cousine Dora, die einige Tage bei Lotte bleiben sollte, ist nach Hause gelaufen. Nun ist meine Schwester mit ihrer Kinderschar allein.

Zwei Stunden Schlaf gönne ich mir, dann stehe ich auf. Mutter hat die Lebensmittel schon auf den zweirädrigen Kastenwagen gepackt. Sie spannt unsere alte Schimmelstute davor und ich fahre los. Die Fahrt ist sehr schwierig. Als ich die Chaussee erreiche, ist diese voller Flüchtlingswagen und Fahrzeugen der flüchtenden Soldaten. Ich komme nur sehr langsam vorwärts, denn ich muss in die entgegengesetzte Richtung.

Meine Schwester hat ein kleines Mädchen geboren. Es ist zwei Tage alt. Bruno, das älteste ihrer Kinder, selbst erst sechs Jahre alt, muss helfen, die kleineren Geschwister zu versorgen, insbesondere die dreijährigen behinderten Zwillinge. Ich koche Brei für die Kinder und für die Mutter. Dann muss ich schweren Herzens wieder weg. Ich kann nicht bei ihnen bleiben! Ich habe Nachtdienst als Weichenwärterin im Bahnhof Mattenau. Da darf ich nicht einfach fehlen! „Wir müssen durchhalten bis zum Letzten, um den Betrieb dieser, für die Ostfront so wichtigen Bahnstrecke aufrecht zu erhalten,“ sagte unser Bahnhofsvorsteher immer wieder.Das ist auch meine Meinung!

Pünktlich um 18 Uhr erscheine ich auch an diesem Tag zum Dienst. Aber wie sieht es plötzlich am Bahnhof aus? Schweine und Kühe laufen umher. Blut im Schnee zeigt mir, wo in großer Eile Tiere geschlachtet worden sind. Menschen mit Koffern und Bündeln drängen in den Zug, der auf dem Gleis in Richtung Westen steht. „Es ist der letzte Flüchtlingszug.“ Diese Nachricht kommt auf dem Morseapparat. Telefonanlagen und Signalleitungen der Reichsbahn sind schon zerstört.

Und meine Familie? ??? Sie ist noch zu Hause! Sie wissen nicht, wie nahe und wie groß die Gefahr ist! Ich rufe voller Angst Betty Schneider an, die in ihrem Krämerladen in Hutmühle ein Telefon hat. ? „Rasch, Betty, lauf zu meinen Eltern, schlage auch im ganzen Dorf Alarm! Für den Treck ist es zu spät! Die Russen kommen!“

Mit dem Pferdeschlitten bringt mein Vater unsere Großmutter, Mutter und meinen zehnjährigen Bruder Helmut zum Zug. Gepäck haben sie kaum dabei. Vater muss wieder zurück. Die Volkssturmmänner sollen im Treck fahren und das Vieh mittreiben. Es ist eine bitterkalte Nacht. Der Zug, in dem meine Lieben sitzen, steht vor dem Fenster meines Dienstraumes. Er kann nicht geheizt werden, weil der Lokführer die Kohlen für die Flucht aufsparen will. Der Zug kann auch nicht abfahren, weil die Bahnstrecke total verstopft ist. Über Insterburg steht ein Feuerschein. ??? Immer noch gehen Volkssturmmänner, nur mit Knüppeln bewaffnet, die Bahngeleise entlang. Man befürchtet Anschläge durch Partisanen.

Um zwei Uhr in der Nacht fährt der Lokführer den Zug, ohne durch Signale gesichert zu sein, ohne Fahrbefehl, nur auf Sicht und eigene Verantwortung in die Dunkelheit hinaus. „Lieber Gott, hab Erbarmen,“ bete ich.

Morgens um sechs Uhr, als mein Dienst zu Ende ist, löst mich meine Kollegin Herta vom Dienst ab. Auch sie ist der Ansicht, dass wir wie Soldaten auszuharren haben. Noch einmal gehe ich nach Hause. Kein Mensch zu sehen, nicht im Dorf Mattenau und in Hutmühle auch nicht. In meinem Elternhaus nehme ich den Koffer aus Sperrholz, den österreichische Panzergrenadiere angefertigt hatten, als sie Anfang 1941 wochenlang in den Dörfern Ostpreußens im Quartier lagen, bevor sie nach Russland ziehen mussten. In den Koffer lege ich ein großes Schwarzbrot und den geräucherten Schinken, den Mutter für mich dagelassen hat, für die kommende, ungewisse Zeit. Ich ziehe meinen grauen Wintermantel an, darüber den Eisenbahnermantel. Dann schreibe ich für meinen Vater, der nicht im Hause, aber auch noch nicht aufgebrochen ist, ein paar Zeilen zum Abschied, lege den Zettel auf den Tisch und mache mich wieder auf den Weg.

Nun stehe ich hier auf der Straße nach Mattenau. Von dieser Stelle aus kann ich mein Elternhaus noch einmal sehen. Hellgrün mit rotem Dach und kleinen Fenstern steht es da im Sonnenschein. Unsere Tiere kann ich von hier aus nicht entdecken. Vater hat die Stalltüren geöffnet, damit sie ins Freie können. Sie müssen dem Schicksal überlassen bleiben. Still nehme ich Abschied von meinem Elternhaus. Vielleicht ist es ein Abschied für lange Zeit. Dass es ein Abschied für immer sein wird, ahne ich damals nicht!

Mein Fahrrad mit dem Holzkoffer darauf, schiebe ich durch den frischgefallenen Schnee. In der Luft sind viele Flugzeuge. Sind es deutsche oder feindliche? ??? Ich weiß es nicht Ich habe Angst.? Ich bin allein. ?? Der Geschützdonner scheint sehr nahe zu sein. Ich werde zum Bahnhof gehen. Vielleicht gibt es dort noch eine Möglichkeit zur Flucht.

Ich komme zum Bahnhof Mattenau. Auf dem Bahnsteig sind fremde Eisenbahner. Sie sind zu Fuß die Gleise entlang gekommen. Ratlosigkeit ! Heute fahren keine Züge mehr. Wie soll es weitergehen? Wir müssen weg! ??? Schnell! ??? Das Grollen kommt näher. Nur fort, ehe die Russen hier sind! Aus dem Dienstraum kommt Herta. Der Bahnhofsvorsteher fühlt sich noch immer zum Bleiben verpflichtet. Der Morseapparat funktioniert noch, und darauf kommt jetzt eine überraschende Meldung: „Von der kleinen Station Birkenfeld, die zwischen dem brennenden Insterburg und unserem Bahnhof Mattenau liegt, kommt eine Lok mit einem angehängten, offenen Güterwagen. „Ist das die Rettung? Komm mit, Herta, komm!“ bitte ich meine Kollegin. Sie schwankt zwischen Pflichtgefühl und Angst. Dann holt sie ihre Aktentasche mit der leeren Kaffeekanne, zieht den Mantel über und ist zur Flucht bereit.

Im Güterwagen sind fünf Eisenbahner. Wir klettern zu ihnen hinein. Auch das Fahrrad und mein Koffer kommen mit. Es ist eisig kalt. Schon nach kurzer Zeit friere ich sehr. Ich habe zwei Mäntel übereinander gezogen, aber nur Halbschuhe an den Füßen. Ich besitze keine Stiefel.

Der Lokführer fährt langsam, vorsichtig! Die Schienen könnten von Partisanen beschädigt worden sein. Die Eisenbahnbrücke über den Fluss mag längst eine Zündladung tragen. Wir kommen etwa 30 km weit, bis zum Bahnhof Gerdauen. Weiter geht es nicht. Die russischen Truppen sind auch im Süden Ostpreußens durchgebrochen. Große Aufregung. ??? Was nun ? ??- Vor Kälte zitternd steigen wir aus dem Güterwagen. Das Fahrrad bleibt drin. Ein Zug steht da, überfüllt mit Frauen, Kindern, Alten und Soldaten. Es heißt, der Zug solle nach Königsberg fahren. Vielleicht können wir in Königsberg ein Schiff besteigen? Wir drängen uns in den Zug, fahren jetzt in Richtung Nordwesten. Bisher fuhren wir nach Süden. Feldpolizei sucht im Zug nach desertierten Soldaten. Vor einem Bahnhof bleiben wir stehen. Tiefflieger sind über uns und schießen auf den Zug. Ich drücke mich in die Ecke des Abteils. Halte die Hände über den Kopf ??Angst! ??? Ausgeliefert sein!

Nach Königsberg können wir nicht mehr. In der Innenstadt sollen schwere Kämpfe sein. Ostpreußen ist eingeschlossen. Der Kessel ist nur noch zur Seeseite offen. Die Nachricht berührt mich nur noch wenig. Resignation. ??? Übermüdung. Weichen werden umgestellt. Nun treibt uns der Krieg zur Ostsee hin, bis zum Bahnhof Braunsberg, weiter geht es nicht. Dahinter liegt das FRISCHE HAFF. Nur ein schmaler Landstreifen trennt das Haff vom Meer.

Im Bahnhof Braunsberg liegen wir mit vielen Menschen im kalten Wartesaal, Körper an Körper auf der blanken Erde. Ich fühle meine Füße kaum noch vor Kälte. Ein Stück von mir entfernt liegt ein älterer Mann. Er hat sich mit einem Federbett bedeckt. Ach, dürfte ich nur ein Weilchen meine Füße darunter stecken. Neben mir sehe ich Herta und eine andere junge Frau in Reichsbahnuniform. Sie heißt Gertrud. Sie will sich uns anschließen. Ich bin eingeschlafen. Plötzlich wieder der Ruf: „Wir müssen weg! Die Russen kommen!“ Es gibt nur den Weg über das Eis des Haffes. Viele Menschen strömen in dem Licht, das der Schnee gibt, zum Ufer. Links von uns, ? dort wo Frauenburg liegt, Geschützdonner. – Aus einem Lazarett kommen Soldaten mit Kopfverband, mit Krücken, auf Kameraden gestützt, – ein gespenstischer Zug.

Ich höre meinen Namen rufen. Es ist Gertrud. Ich hatte meinen Holzkoffer im Bahnhof stehen lassen. Sie hat ihn auf einen Postschlitten geworfen und kommt hinter uns her. „Das Brot „, sagt sie, „und der Schinken!“ Wie Menschen, die zusammengehören, bleiben wir nun zusammen. Die vier Männer aus dem Güterwagen, Gertrud, Herta und ich.

Auf dem Eis des Haffes liegt eine Schneeschicht. main, dort wo Königsberg sein mag, heller Himmel. Tiefes Grollen hinter uns.

Es wird hell. Das Eis ist voller Menschen, mit Bündeln, mit Koffern, mit Kindern auf dem Rücken. Hinter uns auch Pferdewagen. Kleine Panjewagen. Sie kommen wohl schon von weit her, in Ostpreußen hat man solche Wagen nicht. Dicht neben mir quält sich eine Frau mit einem Kinderwagen durch den gefrorenen, zertretenen Schnee. Über uns ist Sonnenschein und blauer Himmel. Auf dem Eis verstreut liegt zurückgelassene Habe der flüchtenden Menschen, Ballast, abgeworfen. Eine kleine Ruhepause. Wir öffnen den Koffer. Danke, Gertrud, dass du ihn gerettet hast. Wir müssen weiter. Gertrud legt einen eleganten Lederkoffer auf den Schlitten. Sein Inhalt besteht aus einer wertvollen Fotoausrüstung. Er stand herrenlos auf dem Eis. Mein Denken bäumt sich einen Augenblick dagegen auf. Das ist Kameradendiebstahl, oder etwas Ähnliches.

Ein Stück von uns entfernt fallen Bomben. Weiter! Weiter! Die Füße tragen mich. Die Gedanken sind wie in Watte gehüllt. Herta klagt. Ihre Füße sind so geschwollen. Sie kann nicht mehr laufen. Sie setzt sich auf den Schlitten und wird von uns gezogen. Plötzlich ein neuer Ton. Er läuft durch das Eis vor uns, verklingt, wie der Ton einer singenden Säge. Das Eis hat einen langen Riss bekommen. ??? Nur weiter! ??? Weiter! Darüber hinweg, ehe es bricht! Die Frau neben uns reißt ihr Kind aus dem Wagen, damit sie schneller laufen kann. Wir haben es geschafft! ??? Wir schauen nicht zurück.

Noch immer ist um uns die unendliche Eisfläche. Warum staut sich da vorn die Menschenmenge? Eine Fahrrinne für die Schiffe ist ins Eis geschnitten. Vier oder fünf Meter breit. Was nun? Wieder Ratlosigkeit. Wir sehen ein Schiff kommen, es ist der Eisbrecher.

Zufall oder Schicksal? Er hält dort, wo wir am Rande des Eises stehen. Wie ich in das Schiff gekommen bin, weiß ich nicht.
Eine kleine Treppe, ein warmer Raum, Schlaf der Erschöpfung. Der Eisbrecher bringt uns in einen Hafen. Wie heißt dieser Hafen?
Wir müssen aussteigen. ? Der elegante Koffer bleibt zurück.

Einer der Männer unserer Notgemeinschaft, Erich Kareseit, nimmt meinen Holzkoffer. In diesem Hafen liegt ein großer Dampfer. Aber Feldpolizei treibt uns zurück. Nur Mütter mit Kindern dürfen noch an Bord gehen. Wir entdecken einen Frachter. Vor seinem eisüberzogenen Aufgang drängen sich die Menschen. Auch dieses Schiff ist mit Flüchtlingen schwer überladen. Wir drängen uns hinauf Wo sind Herta und Gertrud geblieben? Unser Schiff legt ab. Das Deck ist eine einzige Eisfläche Immer wieder schwappt Wasser darüber und friert. Über uns kreisen Flugzeuge. Ein Mann der Besatzung ruft durch das Megaphon: „Wenn wir von Bomben getroffen werden und sinken, klammert euch an den Planken fest!“ Ich werde gleichgültig, gefühllos. Erich reibt meine Hände, die in Fausthandschuhen stecken. „Du darfst jetzt nicht einschlafen“, sagt er. Er zieht seinen Mantel aus. Umhüllt uns beide damit. Die Zeit bleibt stehen. Ich fühle nur Eiseskälte, Angst und zwei väterlich schützende Arme.

Irgendwann sind wir wieder in einem Hafen. Wir steigen aus. Hier ist noch Frieden. Rote?Kreuz?Schwestern verteilen heiße Suppe. Unter den vielen Menschen entdecke ich Herta und Gertrud. Wir müssen weiter. Bald sitzen wir im Abteil eines Zuges, der dann tagelang hinter einem Bahnhof auf dem Abstellgleis steht, ehe er nach Schwerin weiterfährt. In Schwerin finden wir ein Eisenbahnerheim, Doppelstockbetten und warmes Wasser. Ein großes Pappschild trägt die Aufschrift: „Keine nasse Wäsche auf die Heizung legen!“ Wir übertreten das Verbot. Eine Woche dürfen wir bleiben, dann müssen wir wieder weiter. An einem frühen Märzmorgen sitzen wir in einem Personenzug und sehen im grauen Morgenlicht die Trümmer von Hamburg. Dieses Bild erschüttert mich. Die Reichsbahndirektion in Altona entscheidet: Wir Frauen dürfen in Hamburg bleiben, die vier Männer müssen weiter nach Fehmarn.