Bei Kriegsende 1945 war ich 16 Jahre alt. Ich lag mit Lungenentzündung im Krankenhaus Wandsbek-Gartenstadt. Ich erinnere mich nur vage daran. Die letzten Wochen vor der Kapitulation war ich öfter zusammengebrochen vor Hunger, Kälte, Nässe und totaler Erschöpfung durch die allnächtlichen Bombenangriffe. Wir mussten jede Nacht raus. Der Weg in unseren Bunker an der Dorotheenstraße war ein einziger Hindernislauf über Straßenbarrikaden, die als „Panzersperren“ dienen sollten. Als ob die noch geholfen hätten!
In Panik hörte ich die Radio-Meldungen über die Zerstörung von Berlin mit Stalinorgeln und Flammenwerfern! Wir hörten den ständigen dumpfen Geschützdonner aus der Gegend um Harburg herum und erwarteten nun auch bei uns stündlich das gleiche Schicksal. Wer Stalinorgeln und Flammenwerfer einmal in der Wochenschau gesehen hatte, konnte sich ausmalen, was uns bevorstand. Es hatte ja so kommen müssen! Hoffentlich würde unser Statthalter, der Hamburger Gauleiter Kaufmann unsere Stadt den Alliierten kampflos übergeben! Gegen den Willen Adolf Hitlers!? Der hatte sich ja vor einigen Tagen in seinem Wahnsinn das Leben genommen und sich damit der Verantwortung für sein „geliebtes Volk“ entzogen. Das hätte er man schon viel früher tun sollen.
Die Straßensperren hatten mir die letzte Kraft genommen. Ich war so schwach auf den Beinen und konnte den Weg über die meterhohen Hürden bald nur noch kriechend bewältigen. Und das fast jede Nacht ein- oder zweimal hin und zurück. Bis ich schließlich einmal liegen blieb und zunächst nicht wieder aufstehen konnte. Am nächsten Tag mußte ich ins Krankenhaus – zu Fuß! – nach Wandsbek Gartenstadt. Meine Stiefmutter begleitete mich. Drei Stunden hat es gedauert, bis wir dort ankamen. Bahnen oder Autos konnten wegen der Straßensperren ja nicht mehr fahren. Meine Stiefmutter war ebenfalls am Ende ihrer Kräfte.
Wir wohnten damals am Krohnskamp, gegenüber der Matthäuskirche, zu dritt auf einem Zimmer: Mein Vater, meine Stiefmutter und ich. Meine Schwester und meine Mutter waren bei Verwandten in Augsburg geblieben. Ich wäre auch gern dort geblieben, sie hatten weniger Fliegerangriffe und mehr zu essen. Aber ich war Lehrmädchen in Hamburg und musste zurück. Mein Vater war bei der Polizei nachts im Einsatz.
Wenn meine Stiefmutter und ich endlich im Bunker ankamen, waren bereits alle Plätze besetzt. Wir mussten stehen, und ich konnte nur keuchen und weinen. Oft gaben meine Beine nach. Das Krankenhaus war deshalb eine Erlösung für mich. Ich war so dankbar! Dort ging es mir auch gleich besser. Wir Kranken bekamen gute Butter und Weißbrot, viel Milch und Grießbrei, und am frühen Abend wurden wir in unseren Betten in den Keller gebracht. Das Pflegepersonal war gut zu uns. Sie legten mich mittags sogar in die pralle Maiensonne. Das jedoch ist verkehrt für Lungenkranke, ich bekam einen Sonnenstich. Das war übel, machte meine Lunge wieder krank, und ich musste sehr viel von dem guten Essen erbrechen, was mein Körper doch zum Aufbau gebraucht hätte.
Am Tage der Kapitulation hörten wir durch die geschlossenen Krankenhausfenster die alliierten Panzer in Hamburg einrollen. Aber es fiel nicht ein Schuss! Die Bevölkerung hatte striktes Ausgehverbot, Türen und Fenster mussten fest verschlossen bleiben. Niemand durfte sich am Fenster sehen lassen, niemand hinausgucken! Ich erinnere mich, dass zwei englische Soldaten mich am nächsten Tag auf eine Trage legten und wir alle in das Barmbeker Krankenhaus umquartiert wurden. Das schöne Krankenhaus Wandsbek-Gartenstadt wurde ab diesem Tage Lazarett für die Alliierten. In Barmbek bekamen wir Kranke kaum noch Zuwendung. Die Krankenschwestern wurden abgezogen, der Küchenbetrieb eingeschränkt. Unsere „Befreier“ hatten nun Vorrang! Aber wir hatten keine nächtlichen Angriffe mehr, wenn uns auch die geringe Lebensmittelzuteilung bös‘ zusetzte.
Als ich entlassen wurde, bekam ich Hungerödeme. Aber wir konnten nachts durchschlafen, keine Fliegerangriffe mehr, keine Nachtwanderungen in den Bunker.
Der Winter 1945/46 war der schwerste, den wir kennen lernen sollten. Wir hatten im Büro nur „Rollglas“ vor den Fenstern, und ich schrieb mit zusammengeflickten „Fausthandschuhen“ auf der eisernen Schreibmaschine. Bald verheizten wir das Linoleum in kleinen Stücken im Kanonenofen, weil wir sonst erfroren wären.
Inzwischen wohnten wir in einer großen Souterrainwohnung, hatten aber keine Feuerung. Mein Vater musste mit anderen nachts als „Kohlenklau“ tätig werden. Es war aber nicht die Bahn-, sondern die Military Police der Engländer, die die frierenden Menschen am Kohlenklauen hindern sollten. Die Züge kamen nicht einfach angerollt und blieben auf den Geleisen stehen zur Selbstbedienung, man musste hinaufklettern während der Zug noch fuhr! Die Leute wussten ganz genau, wo der Zug langsam an ein Signal heranrollte oder gar stehen blieb, und wann! Da war z.B. der Verschiebebahnhof in Rothenburgsort. Dann sprangen sie auf und kletterten mit dem leeren Sack hinauf. So passierte es, daß schon mal einer beim Anrücken der Lok hinunterstürzte auf die Geleise oder zwischen die Puffer geriet und nicht mehr weglaufen konnte. Die MP war angehalten, die Leute zu warnen und notfalls sofort zu schießen. Auch Hunde wurden eingesetzt! Und Scheinwerfer. Es waren viele Schuljungen dabei! Wenige konnten mit dem gefüllten Sack wieder nachhause rennen. Aber manche hatten eben Glück, und die waren maßgeblich für die anderen, um zu überleben.
Morgens, wenn ich aufwachte, war in meinem Zimmer das Schwitzwasser an den Wänden neben dem Bett gefroren und vor meinem Mund hing Eis an dem Schaffell, das mein Vater besorgt hatte und mir abends über meine Bettdecke legte, damit ich nicht über Nacht erfror.
Erst als wir schon fast verhungert waren, durften wir in der Berufsschule an einer Schwedenspeisung teilnehmen. Es gab einmal die Woche dicke, süße Suppe oder Erbsensuppe. Aber wir waren jung und im Wachstum, und unser Hunger war so groß, dass wir alles aßen, was nur irgendwie essbar schien. Steckrüben bekamen wir reichlich, morgens, mittags, abends, roh, gekocht oder gebraten. Eine Delikatesse war Milchpulver mit Wasser angerührt. Das Beste war noch die Wurstbrühe, die meine Stiefmutter beim Schlachter holen konnte, ich glaube, einmal die Woche ein Kochgeschirr voll für uns drei Personen.
Die Engländer montierten in Hamburg in den Industriebetrieben alles ab, was noch heil geblieben war und was sie gebrauchen konnten: „Reparationen“ nannte man dies. Und nun wollten sie uns aushungern……!
Und trotz all der Nöte, wir waren so dankbar, das sie uns nun nicht mehr bombardierten, dass wir nachts nicht mehr um unser erbärmliches Leben rennen mussten. Ich erinnere mich noch gut, wie ich am Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf den ehemaligen Adolf-Hitler-Platz, nun Rathausmarkt genannt, ging. Die Lunge war wieder gesund, ich schaute mich um, die Sonne schien, da überkam mich ein Hochgefühl: „Nun kann mir nichts mehr geschehen, alles andere werde ich durchstehen, denn das ganze Leben liegt noch vor mir! Nur nie im Leben wieder Krieg und Terrorangriffe!“
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